Lumen Tenebris | Konzept

Sieh doch zum Himmel und zähl die Sterne



Abb.: »Sie doch zum Himmel
und zähl die Sterne«
Liebfrauenkirche, Oberwesel


Die Idee

In der gotischen Liebfrauenkirche zu Oberwesel wird als Projektbeitrag von Stefan W. Knor zur Luminale 2008 eine Licht- und Klanginstallation verwirklicht, die den Besuchern den Kirchenraum als einen Kristallisationspunkt eröffnen möchte, in welchem sich Himmel und Erde berühren. Im Zusammenwirken von Licht, Musik (durch Licht visualisierte Musik) und gotischer Architektur erleben die Besucher den Sakralraum mit seinen einzigartigen Kunstschätzen immer wieder neu. Inspiriert wurde die Installation durch die mit einem Sternenhimmel versehenen Gewölbe der Kirche.

Kirchen stellen gerade im geschäftigen Umfeld von Städten, aber auch auf dem Land Freiräume des Menschseins dar. Sie werden bewusst als »Gotteshaus« der Verzweckung durch den Menschen ausgespart, damit die Menschen dort einen Raum finden, um wieder mit sich selbst und dem Urgrund ihres Seins – mit Gott – in Kontakt zu kommen.

Es sind deshalb heilige Orte in einem ganz aktuellen Sinn. Sie bieten Möglichkeiten für die Menschen: zur Ruhe kommen, sich konzentrieren, Geborgenheit, Schutz und Segen erfahren und haben damit eine heilsame Wirkung auf die Menschen. Kirchen haben eine über 1700jährige Geschichte als heilsamer Ort für die Menschheit. Bis heute sind sie ein lebendiger Versammlungsort für die Feier der hl. Messe und werden von Betern frequentiert, die Kerzen entzünden, die vor den Andachtsbildern beten oder im weiten Kirchenschiff ihre Ruhe finden. Neben diesen traditionellen Formen der Erfahrung, dass sich hier am Ort Himmel und Erde berühren können, möchte ich durch meine Installationen versuchen neue Formen spiritueller Erfahrung zu finden.

In diesem Sinne handelt es sich bei der Installation auch nicht um ein Spektakel, das den Kirchenraum nur als Baukörper benutzt. Es geht vielmehr darum, ihn von seinem Wesen und seiner Bestimmung her aufzugreifen und diese Intention in neue Medien und Formen zu übertragen und fortzuführen, dabei bleiben alle wesentlichen Elemente dieses heiligen Raumes unangetastet. Aus diesem Grund sollten auch die konsekrierten Hostien an ihrem Ort im Tabernakel bleiben. Ein Räumen des Tabernakels wäre sogar kontraproduktiv, da damit eine vermutete Unvereinbarkeit der Installation an diesem Ort eingestanden würde. Stattdessen versucht die Installation, den Ort des Tabernakels in das Gesamtkonzept zu integrieren. Die Präsenz Gottes im geheiligten Brot während einer Installation ist Ausdruck der Überzeugung, dass die Inkarnation Gottes kein geschichtlich abgeschlossenes Ereignis ist, sondern ein dynamischer Prozess, der sich fortwährend in seiner Kirche und ihren Lebensäußerungen vollzieht. So auch in ihren aktuellen Bemühungen, die Botschaft vom befreienden Gott mit den zeitgemäßen Medien in solchen Installationen erfahrbar zu machen. Der Gebrauch von Licht, Musik und anderen Materialien vermeidet die Reduktion auf eine einzige Kommunikationssituation und ermöglicht so unterschiedliche Kommunikationsformen für die communio von Gott und Mensch. Durch die Kombination so verschiedener Medien wird eine heilsame Wirkung des Sakralraums auf den Besucher erstrebt, was der Urintention sakraler Räume entspricht.

Die Gotik

In der gotischen Architektur ist nichts dem Zufall überlassen. Die Architektur spricht zu den Menschen, die ihre Sprache beherrschen, und erschließt sich diesen so in einer wunderbaren Vielfalt, Ästhetik und Schönheit.

Die Verankerung des Lebens in der Transzendenz war für den mittelalterlichen Menschen selbstverständlich. In der Zeit des beginnenden 12. Jahrhunderts ist ein Wandel in der Architektur von der beschützenden himmlischen Gottesburg zur Darstellung des himmlischen Jerusalems und dem Himmel selbst, zu verzeichnen. Die Menschen erfasste eine Sehnsucht nach dem Göttlichen. Sie wollten nicht mehr menschliche Gesellschaft ordnen, die Dämonen und Feinde niederhalten, sondern einen Blick in den Himmel werfen, um so die Einheit von geschaffener und himmlischer Welt zu erleben.

»Ecclesia materialis significat ecclesiam spiritualem«
Die materielle Kirche bedeutet die geistige Kirche, das Sichtbare der ecclesia materialis deutet auf das Unsichtbare der ecclesia spiritualis hin, und so wird im Kirchenraum alles zum Symbol.

Zahlenymbolk in der Gotik

Die Gesetze der Geometrie gelten auch im Himmel
Der Bau der Arche (Gen 6, 14–16)
Der erste Bau des salomonischen Tempels (1. Kön 6)
Wiederaufbau des Tempels (Ez 41; 42)
Das neue Jerusalem in der Offenbarung (Joh 21)

Symbolik in der gotischen Architektur

Die Apostel, Säulen der himmlischen Stadt
Vertikalismus (Sursum corda – Erhebet die Herzen)
Unsichtbare Stützung
Diaphane Struktur (diaphan [griech.] = durchscheinend); Licht
Raumstruktur und Figurenzyklus; z.B. Hl. Christopherus
Leben mit den Heiligen; Reliquienverehrung

Licht in der gotischen Architektur

Das Licht verband nach der Vorstellung der damaligen Philosophie/Theologie die himmlische und die irdische Welt. Die Menschen hielten das Licht für etwas Immaterielles und mehr den himmlischen Sphären zugeordnet. Die Sonne und die Gestirne leuchten, nicht aber Gegenstände auf dieser Erde, wenn sie nicht von oben her beleuchtet werden. Aber auch Gegenstände haben Anteil am Licht, so z.B. Edelsteine, aber auch Kohle. Je mehr Anteil an Licht ein geschaffenes Gut hat, desto himmlischer, desto Gott ähnlicher erschien es den Menschen.
In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht erfasst. Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt.“ (Joh 1, 4–5.9)

Wer im Licht ist, hat Zugang zu Gott, das Licht vermittelt den Zugang zur himmlischen Welt. Der Mittler, Jesus, ist selbst das Licht. Das Licht ist zugleich das schöpferische Prinzip. Johannes sagt, dass durch ihn »alles geworden ist«. »Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden« (Joh 1, 10).

Theologische Grundlegung

Gottes Bund mit Abraham. Gott sichert feierlich Abrahams Nachkommen das Land Kanaan zu: »Nach diesen Ereignissen erging das Wort des Herrn in einer Vision an Abram: Fürchte dich nicht, Abram, ich bin dein Schild; dein Lohn wird sehr groß sein. Abram antwortete: Herr, mein Herr, was willst du mir schon geben? Ich gehe doch kinderlos dahin und Erbe meines Hauses ist Eliëser aus Damaskus. Und Abram sagte: Du hast mir ja keine Nachkommen gegeben; also wird mich mein Haussklave beerben. Da erging das Wort des Herrn an ihn: Nicht er wird dich beerben, sondern dein leiblicher Sohn wird dein Erbe sein. Er führte ihn hinaus und sprach: Sieh doch zum Himmel hinauf und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst. Und er sprach zu ihm: So zahlreich werden deine Nachkommen sein. Abram glaubte dem Herrn und der Herr rechnete es ihm als Gerechtigkeit an.« (Gen 15, 1–6)

Die unendlich wirkende Anzahl der Sterne am nächtlichen Himmel ist die Verheißung Gottes an Abraham über die Anzahl seiner Nachkommenschaft. Im Alten Testament galt nur der als gesegnet, der eine möglichst große Anzahl von Nachkommen zeugte. Denn in der Nachkommenschaft lebte der Name weiter und galt als besonderes Zeichen der Gnade Gottes. Gott geht mit Abraham einen Bund ein. Wer an ihn glaubt, den wird Gott erhalten, über den hält er seine schützende Hand. Der Sternenhimmel wird so zum Symbol für die ständige Zusage Gottes an die Menschheit. Geborgenheit, Behütetsein und Zuflucht wird den Menschen von Gott versprochen.

Ziel der Installation

Die Installation will den Menschen einen niederschwelligen, unmittelbaren und zeitgemäßen Zugang zu einer Grundaussage unserer christlichen Botschaft bieten:

Es gibt einen, der dich liebt, wie du bist: Gott. Bei ihm darfst du ganz du selber sein und auf ihn darfst du hoffen. Vor ihm darfst du dich vergessen, alte Wege verlassen und neu beginnen. Er schenkt dir Räume und Begegnungen, in denen du neue Hoffnung und neue Perspektiven für dein Leben entdecken kannst. Er schenkt dir den wahren Frieden für dein Leben, er führt dich zu neuer Lebendigkeit und zur Fülle deiner Möglichkeiten. (… ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben. Joh 10,10) – Wo wir Menschen das erfahren, da spüren wir: hier berühren sich Himmel und Erde!

Die sonst so wortlastige christliche (Gottesdienst-)Tradition lässt sich so auf ein Experiment einer nonverbalen, unmittelbaren Verkündigung mittels der Primärreize ein. Durch die ganz unmittelbaren Reize von Licht, Klang sowie andere Materialien sollen die Besucher den Kirchenraum als einen Kristallisationspunkt erleben, in dem sich Himmel und Erde berühren. Die Sinne der Besucher, die »Fenster ihrer Seele« nach außen, wie es Aristoteles formulierte, werden eingeladen, sich zu öffnen für eines der größten Geheimnisse des Menschseins, der Erfahrung der Verbindung zu einem transzendenten Gegenüber, den wir als Christen als den dreifaltigen Gott bekennen. Die Sehnsucht in den Menschen nach dieser Dimension ihres Lebens wach zuhalten, ihnen neue Hoffnung zu geben und für die Annäherung daran Raum zu geben, ist eine der wichtigsten Aufgaben der Kirche in unserer Zeit.
Kirchen-Installationen können daher den Kirchenraum zu seinem eigenen Wesen zurückführen und somit im besonderen Einzelereignis verdichten, was Aufgabe, Sinn und Funktion des Sakralraums überhaupt ist: Es treffen sich Himmel und Erde, die Dimension des Jenseitigen trifft auf das Hier und Jetzt in neuen Medien. Als niedrigschwelliges Angebot an junge und alte Menschen in verschiedensten Kommunikationssituationen vermag es den Gläubigen ganzheitlich anzusprechen. Darüber hinaus wird noch ein anderes Desiderat erfüllt: der Kirche fern stehende Menschen und praktizierende Christen werden gleichermaßen angesprochen und individuell auf ihrem je anderen Glaubensweg vorangebracht und bereichert, indem ihnen der Sakralraum auf neue Weise als Ort der Gottesbegegnung erschlossen wird.

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