Lumen Tenebris | Konzept

Hilfloser Gott, behütender Gott



Abb.: »Hilfloser Gott, behütender Gott«;
Citykirche, Mönchengladbach


Auszug aus der Begrüßungsrede

Das ist selten und das ist selten schön: Hier sitzen heute Menschen verschiedenen Alters, verschiedener Generationen, Menschen mit verschiedenen Aufgaben und Verantwortlichkeiten. Jüngere und Ältere, Lehrende und Hörende, Geistbegabte und handwerklich Begabte.
Das ist selten schön, dass so viele verschiedene Menschen zusammensitzen, singen, erzählen, essen und trinken, zuhören und sich stärken.
Das ist selten schön, denn die Erfahrung in der großen Welt lehrt uns anderes: Oft herrscht Unfrieden, wenn Menschen verschieden sind; man beobachtet einander argwöhnisch; fremde Menschen machen Angst und Angst beschwört ein merkwürdiges Schutzbedürfnis heraus. Sich schützen, ist ja was Wertvolles und es ist vernünftig; aber viele verwechseln Schutz damit, sich abgrenzen zu müssen. Schutz wird zur Abwehr und aus Abwehr wird nicht selten Kampf, Krieg und Kampf.

In diesem zu Ende gehenden Jahr ist sehr viel gekämpft worden in der Welt; die Zahl der Toten ist unermesslich; die Zahl der Trauernden und Hinterbliebenen nicht weniger zahlreich.
Das Leben ist so zart, so zerbrechlich und die Menschen sind oft so hart und unerbittlich. Warum nur?

Eine Krippe aus Glas. Da werden gleich Assoziationen wach: Transparenz und Zerbrechlichkeit. Gefäße sind oft aus Glas, Gefäße, die uns Nahrung und Trank spenden.
Eine Krippe aus Glas. Ein gläserner, zerbrechlicher, transparenter Gott, ein sättigender Gott. Ein menschgewordener Gott, in dem sich das Licht der Welt bricht. Ein hilfloser Gott, der sich mitten hinein stellt in die Welt und die Welt an sich heranlässt: Ungeschützt, kindlich sorglos. Es dauert nicht lange, da lässt er sogar das ganz fremde der Welt an sich heran: Die Weisen aus dem Morgenland. Ein selten schönes Bild: ein hilfloser Gott, der keine Angst vor dem Fremden hat.
Ein Gott, der nicht fremdelt und zugleich ein Mensch, der die Menschen anzieht, ohne sie das Fürchten zu lehren.

Eine Krippe aus Glas. Lichtumflutet. Schwebend und zugleich standfest, standhaft. Weihnachten ist ein Fest des Lichtes und ein Fest der Bodenständigkeit. Ein Fest der Wärme mitten im Winter ebenso wie ein Fest der Nüchternheit inmitten aller Fragwürdigkeit. Ein Fest in Zeiten, wo es nichts zu feiern gibt.
Eine Krippe aus Glas in einer Welt voller Mauern. Gott aus Glas – Mensch aus Glas: zerbrechlicher Gott – verwundbarer Mensch. Mauern in Ländern und Städten; Mauern in Köpfen und Herzen. Unüberwindbare Barrieren, zu hoch, sie überspringen zu können, zu fest zementiert, um sie untergraben zu können, zu dick, um sie durchbrechen zu können. Überall Mauern. Unscheinbar, gleichsam unsichtbar durchsichtig ein Lichtstrahl vom Himmel; ein Lichtstrahl, der sich einen Weg bahnt bis auf die Erde. Erde-gehimmelt und Himmel-geerdet. Brücke statt Mauer, fließendes Licht statt starre Steine.
Wenn Licht fließt und Steine in sich zerfallen, dann werden Wünsche wach, Träume können sich Bahn brechen und Hoffnungen werden geboren.

Dem Licht Gottes strecken sich die Bitten der Menschen entgegen. Immer wieder lassen sich Menschen herab in der Kirche, um ihre Bitten und Wünsche niederzuschreiben. Wo keine Barrieren stören, da ist Platz für Hoffnung.

Ja, das ist selten und das ist schön, dass so viele verschiedene Menschen beieinander sind: Junge und alte, Studierende und Studierte, Lernende und Lehrende, Entdeckende und Erfahrene. Aber die Verschiedenheiten erstrecken sich über viel tiefere Schichten des Lebens als die allein, die wir objektiv wahrnehmen können. Wie verschieden sind unsere je persönlichen Lebensgeschichten und Lebensschicksale, wie verschieden sind unsere Sehnsüchte nach Glück und Heimat?

Alles Wesenseigenheiten, die wir nur voneinander erahnen können. Was wäre, wenn wir von ihnen wüssten? Würden wir uns beschenkt fühlen oder würden wir uns befremdlich abwenden? Weihnachten wird zur Wirklichkeit dann, wenn wir der Verschiedenheit des Lebens nicht mehr mit Abwehr und Abscheu begegnen müssen, sondern mit göttlicher Neugierde. Ich bin mir sicher, es gäbe dann sehr viel weniger Krieg und Streit auf der Erde.

Christof Simonsen

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