Lumen Tenebris | Konzept


Der das Licht um sich schlingt



Abb.: Der das Licht um sich schlingt;
Kloster Zinna


»Der das Licht um sich schlingt wie ein Tuch, den Himmel wie einen Zeltteppich spannt.«

(Ps 104, 2)

Solange es Menschen gibt, erleben sie sich und ihre
Welt als überwölbt vom Blau des Himmels, der eindrucksvollen Wirkung der Erdatmosphäre auf unser Auge, die das Schwarz des Kosmos bricht und aufrichtet und zugleich die Sonneneinstrahlung so weit abschirmt, dass uns das ultraviolette Licht nicht schaden kann. Solange Menschen sind, nehmen sie sich auf der Erde wahr als von Blau umfangen, das den Blick emporzieht in die Höhe und Tiefe des Himmels, in eine Unendlichkeit, die paradoxerweise doch die Erde wie eine Glocke zu überwölben scheint. Entgrenzung einerseits, Geborgenheit andererseits kann Blau übermitteln.

Diese Erfahrung eines Umgreifenden kann sich auch für heutige Menschen angesichts des blauen Himmels bis zur religiös empfundenen Transzendenzerfahrung steigern. Eindrucksvoll ist die Schilderung des damals vierundzwanzigjährigen André Frossard, Kolumnist des Pariser Figaro und Sohn des Generalsekretärs der KPF, der angesichts des Blau eines Herbsthimmels eine erste Transzendenzerfahrung machte, die seinen geistigen Weg veränderte: »Ich sage nicht, dass der Himmel sich öffnet, er öffnet sich nicht; er schwingt empor, er hebt sich plötzlich, ein schweigendes Wetterleuchten …«

Der Himmel erschien Frossard als ein Kristall von »unendlicher Durchsichtigkeit« und »einer fast unerträglichen Leuchtkraft«. Er hatte das Gefühl, eine Steigerung würde ihn vernichten. Mehrmals hatte es das gleiche Erlebnis: »Dieses Licht, das den ganzen Tag erblassen ließ, diese Milde, die ich nie vergessen werde und die mein einziges theologisches Wissen ist.«
Die Weichheit und Helle des Frühlingshimmels mit ihrem goldgelben Schmelz am Horizont ist von einem anderen Blau, einem träumerisch–sehnsuchtsvollen, als der satte seidige Glanz eines Hochsommerhimmels, der von Hitze und Stille zu summen scheint.

An Transparenz und kristallinem Schimmer kommt kein Blau dem des Herbsthimmels gleich. Intensität und Tiefe aber können beim Blau des Winterhimmels noch stärker sein und sich – vor allem im Kontrast gegen den Schnee – bis ins Blauviolett steigern, hinter dem das reine Schwarz des Alls zu ahnen ist.

Eigen ist das Samtblau des Nachthimmels, das den Mond braucht, um sichtbar zu werden; eigen die blitzende Frische im Blau des Morgenhimmels; der milde Dunst über dem warmen Blau des Mittagshimmels und das ins Farbenspiel des Sonnenuntergangs verklingende Blauviolett des Abendhimmels. An jeder dieser Blautönungen des Himmels durch die Tages- und Jahreszeiten hängen besondere Erfahrungen und Stimmungen, die wir uns bewusst machen sollten, wenn wir die Blaunuancen eines Bildes – dieser Installation – verstehen wollen. So fängt zum Beispiel Mörike in einem Gedichtanfang die einzigartige Atmosphäre des Frühlingshimmels ein:


Frühling lässt sein blaues Band
wieder flattern durch die Lüfte;
süße wohl bekannte Düfte
streifen ahnungsvoll das Land.

Blau

Wenn wir Licht und Himmel lesen, so denken wir zum einen an die Farbe Blau. Als Himmels- und Meeresfarbe zeigt Blau bereits seine wesentliche Eigenart: unbegrenzte Ferne und Tiefe. So gilt die Farbe Blau in der christlichen Symbolik des Mittelsalters allenthalben als »die himmlische Farbe«. »Man fühlt sich unter der Einwirkung dieser Farbe sozusagen versucht, ihr nachzugehen«, so äußert sich eine Versuchsperson im Experiment von Stephanescu-Goanga und fährt fort: »Das Blau bringt mit sich etwas Geheimnisvolles, man fühlt sich leicht und träumerisch gestimmt.«

Als psychische Wirkung der Farbe Blau wird am häufigsten angegeben, sie stimme »sehnsüchtig, melancholisch, ruhig, träumerisch«. Lüscher spricht im Zusammenhang mit Blau von »entspannter Empfindsamkeit«, die das Ideal der Einheit suche. Verweilende Zärtlichkeit, Hingabe, Geborgenheit entsprächen dem Grundton der Farbe. Auch eine Bindung an Tendenzen der Vergangenheit kann sich in ihr ausdrücken. Dunkles Blau entspricht nach Lüscher einer religiös-philosophisch-meditativen Haltung.

Nach seinen Beobachtungen steigert sich das Bedürfnis nach Blau bei Erschöpfung und Erkrankung. So stellt Dunkelblau für ihn die farbliche Repräsentation von bestimmten Grundbedürfnissen dar, physiologisch dem nach Ruhe, psychologisch dem nach Befriedigung, Zufriedenheit und Frieden. Wer sich in solch einem ausgeglichenen Zustand befindet, fühlt sich eingefügt, verbunden und geborgen. Auch steht Blau für »Bindung, Verbundenheit, Treue«. Es schafft die Voraussetzung für Einfühlung, besinnliches Nachdenken. Dunkelblau repräsentiert »Gemüt«.

Kandinsky sieht in Blau die »Vertiefungsfarbe«. Sie führt in ihren physischen Bewegungen vom Menschen weg und zum eigenen Zentrum hin: »Die Neigung zur Vertiefung ist so groß, dass es gerade in den tieferen Tönen intensiver wird und charakteristischer, innerlicher wirkt [...] Je tiefer, desto mehr ruft es den Menschen ins Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich nach Übersinnlichem. Sehr tief greifend entwickelt Blau das Element der Ruhe«.

Das tiefe Blau ist für Kandinsky der »ewige überirdische Schwerpunkt« der Farben, während sich im tiefen Grün im Unterschied dazu »irdische Ruhe, Zufriedenheit, Selbstzufriedenheit« ausdrückt.

Für Chevalier ist Blau die tiefste aller Farben: »Der Blick taucht hinein, ohne einem Hindernis zu begegnen, und verliert sich ins Unendliche.« Zugleich ist Blau für ihn die »immateriellste aller Farben: die Natur repräsentiert sich hier in Durchsichtigkeit - wie in Luft, Wasser, Kristall, Diamant.« Blau gilt ihm als die kälteste und reinste Farbe. Ist helles Blau »die Farbe der Träumerei«, so dunkles Blau »die Farbe der Träume«.

Im Rückblick lässt sich nun eine Blau-Skala erstellen, die vom hellen Tagblau bis zum dunklen Nachtblau reicht. Kann das helle Himmelsblau als Farbe der Träumerei, der Irrealität gelten, so das dunkle Meeresblau (ultramarin und Nachtblau, Indigo) als Farbe des Traumes, der Mystik, des Unbewussten. Der klare mittlere Ton (Preußischblau und Kobalt) vermittelt Klarheit, Rechtwinkligkeit, Rationalität und Geistigkeit.

Im christlichen Mittelalter sind alle in Visionen Blau erscheinenden Menschen als die wahrhaft gebundenen Menschen, die um das Himmlische wissen charakterisiert. Ihr Stein ist der Saphir, durchscheinend für die Kräfte des Himmels.

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